Entfremdungsgeschichte der Sinne
1. Kapitel
für
Anthologie Multisensuelles Design
© 2002
by Jürgen W.Kremer
3383 Princeton Drive
Santa Rosa, CA95405
Phone/Fax: +1 707 546 6131
0. Einleitung
Dieses Kapitel ist der erste von drei Beiträgen, die sich primär mit
kulturgeschichtlichen Aspekten des Multisensuellen befassen und somit einen
Kontext für die gegenwärtige Notwendigkeit multisensueller Forschung und eines
kritischen multisensuellen Designbegriffs in Lehre und Forschung herstellen.
Während dieser Beitrag einen Abriß der Verlustgeschichte multisensueller
Selbsterfahrung gibt, entwickelt das nachfolgende Kapitel einen holistischen
Sinnesbegriff auf der Basis nicht nur dieses historischen, sondern auch eines
interkulturellen Vergleichs. Mein dritter Beitrag diskutiert die Tranceerfahrung,
ihre Psychophysiologie und ihre kulturelle Einbettung als multisensuelle
Kreativitätstechnik. Hier können wir uns an den Schamanen als einen Archetyp
des multisensuellen Designers erinnern.
Meine Beiträge beschreiben einige zentrale humanwissenschaftliche
Dimensionen des gesellschaftlichen Funktionsbegriffs der Sinnlichkeit, unter
besonderer Berücksichtigung der Olfaktorik. Ziel der Diskussion ist es, mittels
historischer, etymologischer und interkultureller Analysen Grundlagen für die
Entwicklung von pädagogischen Zielen, von methodischen Begriffen und von
Bewertungsvariablen vorzubereiten. Auf
diesem Wege kann der Begriff des Multisensuellen historisch und kulturell wie
interkulturell verankert werden. Der Ausgangspunkt meiner drei Beiträge ist der
Vergleich zwischen indigenen und modernen Wissens- und Seinsweisen, der mir
dabei dienlich war unbewußte und habituelle kulturelle Annahmen der
europäischen Moderne ins Sichtfeld zu bringen. Auf der Basis meiner
Untersuchungen werde ich dann Hinweise für einen holistischen Funktionsbegriff
der Sinne sowie ein transformatives Lerncurriculum darlegen.
Dieses Kapitel entfaltet die Skizze einer Entfremdungsgeschichte der Sinne
- von multisensueller Selbsterfahrung zu normativer Anosmie und visueller Dominanz.
Die folgenden thematischen Schritte werden unternommen:
--- Dissoziation ist ein Begriff, der zunehmend im psychologischen Diskurs
wichtig geworden ist; er ist nützlich um die Beziehung zu den verschiedenen
Sinnesmodalitäten zu beschreiben und ich benutze ihn als zentrale
Interpretationsachse.
--- Eine Diskussion des modernen Selbsts und seiner Geschichte stellt den
notwendigen Hintergrund für kritische Untersuchungen der Sinne und ihrer
Funktion dar.
--- Die historisch fluktuierende Gewichtung und Bewertung der Sinne ist eng
mit einem sich wandelnden Verständnis von Intelligenz und Denken, der
zunehmenden Prädominanz des Visuellen, verbunden.
--- Die historischen Veränderungen der Sinnesfunktionalitäten sind
relevant, um die Bedeutung eines ökologisch-kritischen und multisensuellen
Begriffs der Sinnlichkeit zu entwickeln. Eine zusammenfassende europäische
Kurzgeschichte der Sinne beschreibt die Veränderungen in ihrer Funktionalität.
--- Aus diesen Beschreibung ergeben sich Herausforderungen an unser
Verständnis von multisensuellem Design.
Zentrale Mythen einer Kultur drücken ihr Selbstverständnis aus. Die
biblische Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies kann als fundamental für
Kulturen angesehen werden, die vom Christentum geprägt waren oder sind. Adam
und Eva schmeckten die Frucht vom
Baum des Lebens und wurden auf diesem Wege zum homo sapiens. Das
Lateinische sapiens und sapere, in der Bedeutung von schmecken und wissen, beschreibt in diesem Mythos das Resultat eines verbotenen,
jedoch intentionalen, mono-kausal verständlichen Aktes: Gregory Bateson (1981)
erzählt diesen Mythos aus systemtheoretischer Sicht, und Gott wird hier als das
Spiel der Systemkräfte verstanden; in seiner Version beginnen die beiden Affen
zu denken und stellen eine Kiste auf die andere, um so die hoch am Baum
hängende Frucht zu erreichen; der Erfolg ihres mono-kausal entwickelten
Handelns führt dazu, dass system-integratives Denken aus dem Paradies
hinausgeworfen wird; der Geschmack
der Frucht des linearen Denkens, die Frucht vom Baum des Wissens, hat
einerseits zur Entwicklung des unglaublich erfolgreichen empirisch-analytischen
Forschungsansatzes geführt (bei gleichzeitig zunehmender positiver Bewertung
des Visuellen), jedoch hat er andererseits eine Begrenzung des Verständnisses
grad eben jener Bereiche bewirkt, die wie Geschmack, Olfaktorik, Akustik,
Berührung, etc. vergleichsweise diffus sind. In der Forschungsarbeit in diesen
vernachlässigten Bereichen müssen wir von daher die Früchte des Wissens nicht
nur als Resultat eindimensionaler Akte verstehen, sondern sie wieder
ganzheitlich schmecken - riechen, betasten, hören und, natürlich, anschauen. In
diesem Sinne können wir multisensuelles Design als die Rückkehr Gottes oder der
Systemintegration und von Adam und Eva in den paradisischen Garten verstehen. Die Umkehr des biblischen Mythos drückt
somit die methodologischen Anforderungen an multisensuelles Design aus. Die
menschliche Frühgeschichte sowie die alternativen Sinneswelten indigener Völker
können bei der Entwicklung eines solchen Ansatzes hilfreich sein. Die Herausforderung in unserer
gegenwärtigen Situation kann dann als eine bewußte (und somit auch kritische)
Einbettung des Designprozesses in die Produktion unseres Weltbildes (in
wissenschaftlichen, mythischen, psychologischen, etc. Dimensionen) verstanden
werden.
2. Dissoziation und die Sinne
Im Folgenden benutze ich den Begriff der Dissoziation um aus
psychologischer Sicht die fürs multisensuelle Design relevante Veränderungen in
der Selbstkonstruktion zu verfolgenden. Solch eine psychologische Perspektive
kann natürlich nicht als monokausaler Erklärungsmechanismus von kulturellen
Sinneskonstellations-veränderungen verstanden werden, sondern alleine
einerseits als beschreibendes Organisationsprinzip und andererseits als nur
eine einizige Erklärungsdimension innerhalb einer komplexen Verwebung von
Kausalitäten. Während solch ein Ansatz in unserem zunehmend
psychologiesierenden modernen Weltbild fast natürlich erscheint, soll uns dies
nicht dazu verleiten der Verführungskraft solch eindimensionalen Verständnisses
zu unterliegen.
Dissoziation ist ein Begriff, der in der klinischen Psychologie in den
letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat, insbesondere im Zusammenhang mit
dem Syndrom der multiplen Persönlichkeit, jüngst in dissoziative Identitätsstörung umbenannt. Dissoziation kann deskriptiv „als berichtete Erfahrungen und
beobachtetes Verhalten, das allem Anschein nach unabhängig vom Hauptstrom oder
Fluß der Erfahrung und/oder Identität existiert oder davon abgekoppelt ist“
definiert werden (Krippner 1997). Die
dissoziative Erfahrung kann mit Assoziation oder Bewußtheit kontrastiert
werden. Dissoziation kann kontrolliert
(z.B. der Voudou-Heiler in Besessenheitstrance) oder unkontrolliert sein
(dissoziative Identitätsstörung), sie kann als lebensbereichernd
(Besessenheitstrance) oder lebensverarmend (dissoziative Identitätsstörung)
erfahren werden (life-potentiating vs. life-depotentiating).
Dissoziation ist ein zentraler Begriff in der Beschreibung des individualpsychologischen
Umgangs mit traumatischen Erfahrungen, insbesondere des Sexualmißbrauchs. Hier
kann die Entwicklung einer multiplen Persönlichkeit oder dissoziativen
Identitätsstörung als coping mechanism verstanden werden, als
psychischer Hilfsmechanismus im Umgang mit traumatischen Erfahrungen, d.h. sie
werden vom Hauptstrom der Erfahrung abgekoppelt. Einen analogen psychologischen
Prozess können wir auf gesellschaftlicher Ebene beobachten: Die Mitglieder
einer bestimmten Gesellschaft lernen es während des Sozialisationsprozesses
bestimmten Erfahrung Aufmerksamkeit zu schenken und andere abzuwerten, zu
vernachlässigen oder sogar zu verleugnen. Dies kann mit dem Begriff normative
Dissoziation bezeichnet werden. Er beschriebt die gesellschaftlich forcierte
Abwertung von Erfahrungen oder Erfahrungsprozessen oder –bereichen, die dem
Menschen psychophysiologisch möglich sind. D.h. unterschiedliche Gesellschaften
und historische Perioden konstellieren unterschiedliche Sinneserfahrung und
Persönlichkeitsstrukturen. Am offensichtlichsten können wir das am evolutionär
zentral Geruchssinn verfolgen. Während wir heute fast von olfaktophobischen
Gesellschaften sprechen können (mit Japan vielleicht an der Spitze,
signalisiert durch das „olfaktorische Referenzsyndroms“, einer Neurose bei der
junge Menschen annehmen, daß sie höchst unangenehme Gerüche abgeben), können
wir in anderen Gesellschaften und anderen historischen Perioden eine positivere
Bewertung von Gerüchen und olfaktorischer Wahrnehmung beobachten.
Hinsichtlich der Geschichte der Sinne und des Selbsts (der Geschichte von
Persönlichkeitskonstruktion und –narration) erhebt sich die Frage, von welcher
Art oder Qualität von Selbst oder von welcher Sinneskonstellation dissoziiert
wird. Unterschieden werden muß hier, in den polaren Extremen, die normative
Dissoziation vom modernen Selbst und die normative Assoziation des indigenen
Selbstes (mit den historisch unterschiedlichen Selbstkonstruktionen als Phasen
zwischen diesen beiden Polen). Aus moderner Sicht ist das indigene Selbst
problematisch, da zu sehr feldabhängig und in die Mitwelt eingebettet (in
extrem diskriminatorischen Interpretationen wird es als weitgehend unfähig zu
individueller Aktion betrachtet). Aus indigener Sicht erscheint jedoch das moderne
Selbst problematisch: Hier kann es als normative, sozial institutionalisierte
Dissoziation verstanden werden; normale und natürliche Bestandteile des Selbst und der
Selbsterfahrung werden aus dieser Sicht pathologisch aus dem Selbst ausgegrenzt
-- Natur, eine mehr synästhesische Wahrnehmung, Trance, etc.; die
individualistischen Rechte des Einzelnen führen zu einen Vernachlässigung von
kommunalen Verantwortungen; das rein lineare Geschichtsverständnis führt zu
einem süchtigmachenden Fortschrittsdenken, das nicht durch zyklische
Perspektiven austariert wird. Während indigene Menschen (die aktiv in ihrem
indigenen Bewußtsein leben und wenig modernisiert sind) weiterhin eine assoziative und bewußte
Beziehung mit der Umwelt haben, scheint die Postmoderne die Überwindung der
normativen Dissoziation des modernen Menschen als Möglichkeit und
Herausforderung postuliert zu haben.
Ökologische Ästhetik und multisensuelles Design sind im Kontext dieser
Potentiale zu verstehen, d.h. als Ansätze die möglicherweise Einfluß auf Ökozid
sowie die Störung und Zerstörung von verkörperten interpersonalen Beziehungen
zu nehmen. W.F. Haugs Kritik der Warenästhetik (1971, 1972) und seine
Einsichten „in konkrete ökonomische Funktionskreise, aus denen bestimmte
Prozesse der Affektmodellierung sich genauer werden erklären lassen“ (1971,
11), in verdinglichte zwischenmenschlichen Beziehungen, finden somit einen
vergrößerten Kontext durch den die Tiefenverankerung von ökonomischen
Gegebenheiten und historisch persistenten ästhetischen Designmanipulationen in
der Selbstgeschichte transparent werden. In diesem Sinne ist es natürlich auch
wichtig, Wahrnehmung nicht als rein biologischen (neurophysiologischen) Akt zu
verstehen, sondern als eingebettet in, und ausgeformt durch, Akkulturationsprozesse.
Die Interpretationsachse der Dissoziation erlaubt uns zu zeigen wie
sinnliche Unfreiheit, die Begrenzung von Sinneserfahrungen und -ausdruck,
geschichtlich langsam tiefer ins Selbst hineingewandert ist. Diesen
Erörterungen ist somit ein Emanzipationsideal implizit, das wir z.B. mit Hilfe
der Diskurstheorie von Habermas (z.B. 1981) formulieren können. Im
multisensuellen Design kann es spezifischer als Befreiung der Sinneserfahrung
sowie als unverdinglichter, offener Austausch mit Umwelt und damit als
Grundlage von Interventionen mit kritischer Intention verstanden werden. Die
Souveränität des Individuums kann dann die artifiziellen nationalen
Stressgesellschaften, die Sloterdijk (1998) gebrandmarkt hat, überwinden und
sich mit Vizenor (1998) als Motilität oder Motion und Transmotion (oder
Trancemotion) verstehen. Hier hat das Individuum das Recht der freien Bewegung
als substantielles Recht wie als Recht imaginativer oder visionärer Freiheit –
ein Selbstverständnis, das mit dem Mythischen, Materiellen, Visionären, der
ethischen Präsenz der Natur und natürlichen Benutzung der Intelligenz (kreative
Imagination) und der Sinne assoziiert werden kann. Die Souveränität des
Individuums in Transmotion ist eine multisensuelle Erfahrung die sich kritisch
nicht nur gegen die eigene mehr oder minder konventionelle Selbstkonstruktion
wendet, sondern auch gegen jene gesellschaftlichen Kräfte, die multisensuelles
Design allein als Funktion im Rahmen des globalen Marktes verstehen wollen.
Die entwicklungspsychologischen und –biologischen Aspekte der Sinnesentfaltung sind für diesen Beitrag insofern von Interesse, als sie wesentliches Hintergrundsmaterial für die kulturspezifischen Stempel darstellen. D.h. sie sind das Spielfeld der widersprüchlichen repressiven und emanzipatorischen kulturgesellschaftlichen Kräfte. Freeman (s. Kapitel XX) erwähnt in seinem Beitrag, daß das Gehirn sich um den Geruchssinn herum entwickelt hat und daß die anderen Sinnessysteme Weiterentwicklungen der grundlegenden olfaktorischen Algorithmen benutzen. Der Geruch war unser erster Sinn und unsere Hirnhemisphären ware ursprünglich olfaktorische Stengel. „Wir denken, weil wir gerochen haben“ (Ackerman, 1990, 20). Aus diesem evolutionären Grunde ist die sich wandelnde Beziehung des Individuum zum Geruchssinn grundlegend für das Verständnis von Persönlichkeitsformation und dissoziativen Entwicklungstendenzen. Die Lagerung des Geruchssinnes im primitiven Reptilgehirn ist, z.B. von Bedeutung, da es für die sich später entwickelnden Sprachzentren relativ unzugänglich ist. Andererseits sind Gerüche besonders wirksam zur Hervorrufung von Erinnerungen, insbesondere Langzeiterinnerungen. Prousts Lindenblütentee und seine Madeleines oder James Joyces Erinnerungen an Babyurin und Öltuch sind literarische Beispiele. Erinnerungen, die durch Düfte hervorgerufen werden scheinen durch ihren Emotionsgehalt oft klarer und intensiver zu sein als visuelle, auditorische oder andere Reize. Dies erklärt sich aus den direkten Verbindungen mit der Amygdala (die Emotionsausdruck und -erfahrung kontrolliert) und dem Hippocampus (der die Konsolidierung von Erinnerungen kontrolliert).
Gerüche sind wie kein anderer Sinn mit Erinnerung und Emotion verwoben (Herz, nach Azar 1998). Unsere tierischen Vorfahren unterscheiden zwischen unbedrohlichen und bedrohlichen Situationen hauptsächlich mit Hilfe der Gerüche. Die Mehrzahl der Säugetiere haben einen hochentwickelten Geruchssinn, den sie in der sozialen Kommunikation benutzen. Unter den Affen finden wir genitales und anales Schnüffeln sowie Kommunikation mittels Urin und Speichel. Bei den Menschenaffen und Menschen ist olfaktorische Kommunikation, im Vergleich zu vielen anderen Tieren, gering entwickelt. Die geruchsproduzierenden Organe sind bei Schimpansen, Gorillas und Menschen vergleichbar gut entwickelt (Drüsen in den Haarfollikeln, insbesondere am Unterarm, in der anogenitalen Region, um die Brustwarzen und in der Haut auf Bauch und Brust), jedoch riechen wir mehr als wir uns bewußt zu sein erlauben. Blinde Menschen erkennen ihre Mitmenschen häufig am Geruch, getragene Kleidung kann geschlechtsmässig identifiziert werden, Ehepaare können den Geruch des Partners von Fremden unterscheiden und Mütter können ihrer Kinder geruchsmässig identifizieren; die Synchronisation von Menstruationszyklen ist wahrscheinlich auch olfaktorisch über Pheromone gesteuert (McClintock Effekt). Bei den Primaten dient die Olfaktion als Zeichen von Identität und Art, Geschlecht, Reproduktionsfähigkeit, sozialem Status und emotionalem Befinden. Darüberhinaus spielt sie wohl eine Rolle in der Gruppenkohäsion, sexueller Erregung, sexueller Synchronisation, bei der Stimulierung von hormonalen Veränderung sowie der Erkennung zwischen Eltern und Jungen (Sussman 1992). Hinsichtlich der menschlichen Evolution können wir annehmen, daß einerseits das Verlassen des Ozeans und andererseits der aufrechte Gang wesentlich dazu beigetragen haben der Olfaktorik einen geringeren Nutzwert zu geben. Schließlich sind es die Tiere, die mit ihrer Nase nur wenig über dem Erdboden durch das Leben gehen, die einen hochausgeprägten olfaktorischen Sinn haben – Schäferhunde riechen vierundvierzig Mal besser als wir Menschen.
Dieser evolutionärbiologische Verlust geht mit einem kulturellen Verlust Hand in Hand (der Entwicklung zunehmender kultureller Anosmie). Kinder mögen alle Gerüche bis zu dem Zeitpunkt wenn ihre Sozialisations sie über gute und schlechte Gerüche informiert. In der europäischen Geschichte sind gute Gerüche oft mit Heiligkeit oder der Jesusfigur assoziiert. Hingegen hat Simmel behauptet, daß die Ausdünstungen der Proletarier eine Gefahr für soziale Solidarität darstellen. Die Nazis glaubten an einen spezifisch jüdischen Geruch, dem Ernst Bloch (1938/1970, S. 189) entgegesetzt: „der Nazi riecht noch nach ganz anderem als nach Blut; er riecht auch nach Urin in dem riesengroßen Nachttopf, Stinktopf seines Habitus, seiner Abscheulichkeit, seiner Verbrechen, seiner Ideologie, er ist ein höllischer Strizi.“ Vorurteile waren oft mit Gerüchen assoziiert, sei es der Gestank der Juden, Prostituierten oder der arbeitenden Klasse; hier war der Geruch das Zeichen für Unmoral. Verschiedene Nationalität bevorzugen unterschiedliche Gerüche: Während die Deutschen in kommerziellen Produkten Piniendüfte zu bevorzugen scheinen, ziehen Franzosen Blütendufte vor; in Venezuela enthalten Fußbodenreinigungsmittel zehn Mal so viel Piniengeruch als in den USA. Eine zentrale Tatsache des Geruchssinn ist, daß er direkt und unvermittelt berührt wird, er wird nicht durch Sprache, Gedanken oder Übersetzungen verdünnt. Und während wir uns Ohren und Augen zuhalten können, bedeutet das Zuhalten der Nase den Tod. LeGuérer (1992, S. 215) kommentiert, daß „die heutige Sensibilität vorwiegend negativ ist; sie ist nicht mit einem kulturell verankerten, lustreichen Genuß reichhaltiger und diverser olfaktorischer Umwelten ausbalanciert.“
Geschmackszellen sind im Fötus nach 8 Wochen ausgebildet, Hören beginnt
spätestens im 5. Monat und das Sehvermögen ist bei der Geburt relativ gut
ausgebildet.[i] Unmittelbar nach
der Geburt unterscheiden Säuglinge zwischen angenehmen und unangenehmen
Gerüchen und sind imstande, die Geruchsquelle zu lokalisieren. In der ersten
Woche nach der Geburt scheinen Säuglinge auch imstande zu sein, den Brustgeruch
ihrer Mutter zu identifizieren (Chamberlain 1983). Die seltenen Fälle von
sogenannten „wilden Kindern“ (Wolfskindern) sind in dieser Hinsicht auch von
Interesse (Classen 1993): Im Fall des wilden Jungen von Aveyron war der
Geruchssinn am höchsten entwickelt, gefolgt vom Geschmackssinn; Sehen stand an
dritter Stelle, dann Hören und zuletzt Berührung. In den bekannten Fällen (den
zwei Wolfskindern in Indien, Kaspar Hauser und Victor in Frankreich) hatten die
Kinder einen hochausgeprägten Hörsinn und extrem sensible olfaktorische Fähigkeiten.
Sie waren extremen Temperaturen gegenüber vergleichsweise unempfindlich. Kaspar
Hauser hatte eine fast übernatürliche Berührungsempfindlichkeit. Victor nutzte seine olfaktorische Fähigkeit
als fundamentales und lustbetontes Mittel der Welterkundung. Die Prädominanz
des Geruchssinn in all diesen Fällen kann darauf hinweisen, daß diese Modalität
ihre Bedeutung erst verliert, wenn sie kulturell unterdrückt wird bzw. andere
Sinnesmodalitäten intensiver angefordert werden. Die ungewöhnlichen Fähigkeiten
dieser Kinder verschwanden, je mehr sie von anderen Menschen sozialisiert
wurden -- die Wichtigkeit sozialer
Fähigkeiten führte zur Vernachlässigung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten.
Diese entwicklungspsychologischen und evolutionsgeschichtlichen Daten weisen
auf die starke Rolle der Sozialisation in der Benutzung der verschiedenen
Sinnesmodalitäten hin. Die Entdeckung eines rudimentären magnetischen Sinnes
sowie die Fähigkeit von Babies, sich wie Fledermäuse per Sonar zu orientieren,
illustrieren dies gleichfalls. Natürlich hat die Forschung der letzten
Jahrzehnte die fünf traditionellen Sinne in eine Vielfalt von spezialisierten
Sinnen aufgesplittert.
Diese kurzen Bemerkungen sollen dazu dienen den psychobiologischen
Hintergrund der kulturellen Ausformung der Sinne anzudeuten. Der kulturelle
Prozeß der dissoziativen versus assoziativen Sinnes- und
Persönlichkeitsentfaltung benutzten diese grundlegende Matrix (obgleich wir
natürlich nicht wissen ob sie vor ein, zwei oder mehreren tausenden von Jahren
in genau dieser Weise existierte; historische Extrapolierungen sind immer mit
Vorsicht zu entwerfen; selbst Aristoteles hat schon zu seiner Zeit die
Abschwächung olfaktorischer Fähigkeiten beobachtet). Rousseau hat bemerkt, daß
Indianer die Spanier allein mit Hilfe ihrer Nase aufspüren konnten und daß
kanadische Indianer ein so feinen Geruchssinn hatten, daß sie ohne Hilfe von
Hunden jagen konnten (in LeGuérer, 1992, S. 168). Dies
ist ein Hinweis dafür, daß in anderen Kulturen eine holistischere Benutzung der
Sinne als Teil eines anders geformten Selbstes vorherrschte. Die kulturell
normative Vernachlässigung und Dissoziation von olfaktorischen Fähigkeiten ist
ein Beispiel für die zunehmende Abtrennung von der Natur; der Verlust der
olfaktorischen Orientierung in der Wildnis findet sein Äquivalent in einer
Persönlichkeitsausformung, die die Beherrschung der Natur mit Hilfe
instrumental-technologisch angewandter linearer Logik betont – ein Ansatz des
Weltbegreifens der mit der eher diffusen Welt der sich vermischenden Düfte im
Widerspruch zu stehen scheint. Die normative Dissoziation der modernen
Persönlichkeit (ein Individualismus, der sich von einer bewußt erlebten
Einbettung in Gemeinschaft und Natur abgetrennt hat) bedeutet einerseits die
Betonung von linearer, monokausaler und schriftgebundener Praxis und
andererseits die Abwertung nonlinearer, multikausaler und mündlich tradierter
Praxen. Die Absplittung oder Dissoziation von Fähigkeiten und
gesellschaftlichen Praxen, die unsere Vorfahren wie indigene Völker als
natürlich ansahen oder ansehen, war auf psychologischer Ebene eine der
notwendigen Bedingungen für die Entwicklung des modernen, eurozentrierten
Selbstes. Es scheint, daß seit dem Beginn der Postmoderne die Verluste, mit
denen dieser Fortschritt bezahlt wurde, mehr in den Brennpunkt geraten sind.
Wenn wir es vermeiden wollen bestimmte Sinnes- und Identitätskonstruktion
als normativ zu setzen, wenn wir es also vermeiden wollen, wie es heute in der
Psychologie gang und gebe ist, das modern europäische Selbst implizit oder
explizit als Norm im Rahmen wissenschaftlicher Forschungen zu verstehen, dann
müssen wir eine Definition entwickeln, die weit genug ist um unterschiedliche
Kulturen und historische Perioden zu umgreifen. Vielleicht mag es als vorläufige
Definition reichen zu sagen: Identität oder das Selbst ist das Konzept des
Individuum und seiner Sinneskonstruktion wie es von der indigenen Psychologie
einer bestimmten kulturellen Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt beschrieben
wird sowie das kommunale Verständnis was es bedeutet Mensch zu sein (Cf.
Cushman 1995). Diese Art von Definition vermeidet es unsere
zeitgenössische Sinnes- und Selbsterfahrung zu verabsolutieren und sie lenkt
unsere Aufmerksamkeit auf vergessene, vernachlässigte oder noch unerforschte
Potentiale. An das multisensuelle Design stellt sich damit auch die Frage:
Welche Qualität der Sinnes- und Identitätskonstruktion ist die Basis seiner
Theorie und Praxis?
3. Das moderne Selbst und seine Sinnlichkeitsgeschichte
Sinnlichkeit und ein Funktionsbegriff der Sinne kann nur im Kontext des Selbsts verstanden werden, das diese Sinne im Prozeß seines Lebens und der Wissenserwerbung benutzt. Das moderne Selbst, das uns in so vieler Hinsicht nicht nur vertraut und angenehm ist, sondern auch einen geschichtlichen Fortschritt gegenüber anderen Selbstkonstruktionen darzustellen scheint, ist eine relativ neue Ausformung der menschlichen Persönlichkeit. Das moderne Selbstverständnis des Individuums hat seinen Ursprung in der Philosophie der Aufklärung und im Viktorianischen Zeitalter. Zu dem Zeitpunkt, als die äußere Realität weitgehend an Mysterium verloren hatte, legte Sigmund Freud dann den psychoanalytischen Grundstein für einen Perspektivenwechsel: Unerforschte und dunkle Kontinente wurden jetzt im Unbewußten des Menschen gesucht. Man kann mit einigem Recht behaupten, daß sich im Laufe des letzten Jahrhunderts ein psychologisierendes Weltverständnis mehr und mehr breit gemacht hat.
Was jetzt folgt ist ein Kurzabriß der Geschichte des Selbsts, im
Zusammenhang mit der Sinnesgeschichte. Diese Übersicht enthält zahlreiche
Vereinfachungen und läßt Variationen kultureller Entwicklungslinien
undiskutiert. Beschrieben werden grobe Trends und modale Erscheinungen. Die
zentrale Interpretationsachse ist das zunehmend dissoziative Verhältnis zu
Umwelt, Gesellschaft und Aspekten der Sinnes- und Persönlichkeitserfahrung; auf
diese Weise wurden die Gewinne der Modernität erzielt. Diese Gewinne werden
jetzt dadurch in Frage gestellt, daß die verlustig gegangenen Aspekte der
Selbsterfahrung in Form der sozialen und ökologischen Pathologien sich wieder
zu Wort melden. Die Geschichte des
modernen Selbsts und seiner Sinne kann grob folgendermassen gegliedert werden[ii]:
Bei den Jäger und Sammler – Kulturen sowie Holtikulturisten und manchen Nomaden
finden wir weitgehend eine assoziative Einbettung der Sinnes- und
Selbsterfahrung in die Umwelt oder Natur. Mit Beginn der Agrarkultur,
insbesondere in der indoeuropäischen Vermischung mit einwandernden nomadischen
Stämmen, hebt sich dieses Selbst zunehmend dissoziativ aus seiner Ökologie
heraus und entwickelt zunehmend eine rigide individualistische Definition des
Selbsts sowie eine hierarchische und prädominant linear-monokausale Benutzung
der Sinneserfahrung. Dieses moderne Selbst der europäischen Kulturen ist
weitgehend die Norm für die Interpretation sozialwissenschaftlich konstruierter
Fakten. In der Postmoderne werden die progressiven Gewinne des
individualistischen Selbsts zunehmend in Frage gestellt und der Verlust von
Selbsterfahrungsmöglichkeiten wird als lebensverarmend und unkontrolliert
erlebt.
--- Seit etwa 200 000 Jahren haben sich Jäger und Sammler -
Kulturen als Bestandteil ihrer Lebensumwelt gesehen. Stammesmitglieder
versuchen nicht ihren Biotop zu kontrollieren, sondern sie bemühen sich darum,
mit Hilfe ihrer Zeremonien und Geschichten (Mythen) in Balance mit der Umwelt
zu leben. Die Leichtigkeit und Häufigkeit mit der die Trance benutzt wird
(religiöse Trance bei vollem Bewußtsein; im Gegensatz zur Besessenheitstrance),
ist ein Zeichen der permeablen und fluiden Selbststruktur. Selbst, Umwelt und
kollektives Unbewusstes (Vorfahren, Geister) sind nicht strikt voneinander
ausgegrenzt und stehen miteinander in beständigem Austausch. Die agierende
Person erfährt Natur, Kommunalität und Geschichte als Aspekte seiner selbst.
Ökologisch signifikant ist, daß Jäger-Sammler -Kulturen im Allgemeinen nur etwa
10% des verfügbaren Ertrags benutzen; die Arbeitszeit beträgt im Schnitt 3-15
Stunden pro Woche. Es ist wichtig, diese Kulturen nicht zu idealisieren, da wir
auch hier Beispiele einer starken Hierarchisierung, Sklavenhaltung und
Frauendiskrimination finden können. Die kulturell sehr unterschiedlichen
Beispiele reichen von attraktiven (im Sinne der möglichen Kritik von und
Alternative zu modernen Gesellschaften) zu problematischen gesellschaftlichen
Praktiken. Zeitgenössische indigene Kulturen haben in der Regel zumindestens
Aspekte dieser Selbstkonstruktion in ihrer Alltagspraxis bewahrt. Wesentlich
ist es die paradigmatische Differenz oder den qualitativen kulturellen
Unterschied im Auge zu behalten: Ziel dieser Gesellschaften ist nicht
Fortschritt, sondern die balancierende Erhaltung der Einbettung in Umwelt und
Gemeinschaft. (Das nachfolgende Kapitel enthält ausführliche Beschreibungen der
Realitätskonstruktionen indigener Kulturen, die den Unterschied zu modernen
Selbstkonstruktionen schlaglichtartig beleuchten.)
Während der visuelle Sinn natürlich in all diesen Kulturen, entsprechend
seiner Prädominanz in der Hirnstruktur, eine entscheidende Rolle spielt, so ist
dennoch die Rolle der übrigen Sinne im Verhältnis zum Sehen relativ wichtiger
und das synästhetische Verständnis der Welt eher normativ. (Ich benutze den
Begriff der Synästhetik hier, auf Grund meiner historisierenden
Interpretationen, nicht in der restriktiven Bedeutung, in der er meist in
zeitgenössischen psychophysiologischen Theorien benutzt wird. Cf. Kapitel 2)
Von daher finden wir auch Stammesrealitäten, die Temperatur, Farbe oder sogar
Geruch als zentrale Koordinate haben. Die Sprache und das mündlich tradierte
Gedächtnis spielen ihre Rolle in körpernaher und enger Verbindung mit der
menschlichen und natürlichen Umgebung. Klang wird häufig, auch zum Zweck der
Tranceinduktion, als natürliches Mittel der Kommunikation mit der gesamtes
Umwelt (Natur, Geister, Vorfahren) benutzt; Zeremonien stellen die Knotenpunkte
dieser kommunikativen Vertiefung dar (sie erlauben intensive holistische oder
synästhetische Sinneserfahrungen). Indigene Sprachstrukturen und Vokabular
spiegeln häufig die Einbettung in die Mitwelt wider. Intelligenz und Wissen
werden mehr synästhetisch begriffen (s. Kapitel 2). Zeremonielle Tranceerfahrung, und damit die Integration der
verschiedenen Sinnes- und Wissenserfahrungen, ist ein zentraler Vektor der
individuellen, sozialen und ökologischen Einbettung und Ausbalancierung (siehe
Kapitel 3).
Eine solche Weltsicht finden wir z.B. auch heute noch bei den Kalahari Juï’hoansi, wie selbst in dieser kurzen Beschreibung von Tsamkxao ¹Oma offensichtlich wird:
Als meine Mutter und mein Vater mich herumgetragen haben und ich hier auf
diesem Land war, da habe ich aufs Land geblickt und sie sagten mir: “Dies ist
der n!ore eines Vaters Vater.“ Meine Mutter sagte: „Dies is meines Vaters
Vaters Vater n!ore und ich habe ein Anrecht darauf, deshalb hast du es auch
durch mich.“
So ist es mit meinem Volk. Wir sind alle miteinander verwandt und wir
grüßen uns und wir verstehen einander. Wir leben zusammen.
Wir sitzen zusammen und sind miteinander verwandt und grüßen einander und
verstehen uns. Wir einigen uns darüber where in diesem n!ore zusammen leben
wird und wer in dem n!ore zusammen leben wird.
Wir sind kein Volk, das Land kauft. Wir selbst kaufen kein Land.
Stattdessen werden wir auf Land geboren. Mein Vater belehrte mich über
meinen Vater, der ihn über die Nahrungsmittel auf unserem Land unterrichtete.
Der Vater des Vaters unterrichtet dich. Die Menschen unterrichteten sich
gegenseitig und unterrichteten sich gegenseitig und unterrichteten sich gegenseitig.
Die Individuen sind gestorben, aber das Unterrichtswissen ist weitergegeben
worden. (Katz et al.,
1997, 50)
Die kommunale Einbettung ist offensichtlich, wenn ¹Oma Djo eines Morgens beschreibt:
Es kann sein, daß du mich morgens nett mit einem frohen Herzen ankommen
siehst. Dann wirst du wissen, daß ich während meiner Nachtreisen [auf denen ich
bei den Leuten nachgucke] jeden bei guter Gesundheit vorgefunden habe. Wenn
aber mein Herz sich schlecht fühlt, dann weißt Du, daß jemand krank ist. Heute
fühle ich mich gut – alle wachten heute morgen bei guter Gesundheit auf und
redeten gut miteinander. (Katz et al., 1997, 55)
Wir können, obgleich mit einiger Vorsicht, annehmen, daß diese
zeitgenössischen Beschreibungen von Jägern und Sammlern in ähnlicher Form auf
sogenannte prähistorische Zeiten zutreffen mögen.
--- Mit dem Beginn der Hortikulturen vor ca. zwölf oder vierzehntausend
Jahren beginnt sich das Selbst aus der Umwelt herauszunehmen. Die
Domestizierung von Mais, Squash, Bohnen, Korn und anderen Pflanzen führt zu
einem Interesse an Umweltkontrolle, und als Fokus entwickelt sich jetzt mehr
und mehr die Heilung und Balance innerhalb
der sozialen Matrix, Natur exklusiv (im Gegensatz zur Wiederherstellung
von Rissen in der gesamten Mitwelt, Natur inklusiv).
Die zeitgenössischen Pueblokulturen im Südwesten der USA (Hopi, Zuni,
Cochiti, etc.) stellen auch heute noch hinreichende Beispiele für Hortikulturen
dar. Bei den Hopis finden wir einen jahreszeitlichen Kalender, der die
kommunalen Tänze um die An- oder Abwesenheit der Katsinageister organisiert.
Der Anbau von Mais, Squash und Bohnen ist ohne zeremonielle Vorgänge auch heute
nicht denkbar. Die Saatsamen werden im zeremoniellen Kiva, einem unterirdischen
Gebäude, zum Spriessen gebracht. Die Katsinageister, die von der
Wintersonnenwende bis etwas nach der Sommersonnenwende aktiv am Leben der Hopis
teilnehmen, sind von instrumenteller Wichtigkeit für ausreichende Regenfälle.
Ihnen sind die regelmässigen langandauernden Katsinazeremonien gewidmet. Am letzten
Tag einer solchen Zeremonie werden die Katsinas in einem Tanz auf dem
öffentlichen Platz des Pueblo geehrt. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang
bewegen sich die Tänzer zu tranceinduzierenden Gesängen und Trommelrhythmen.
Ein wesentlicher Teil dieser Ereignisse ist ein Geschenkaustausch und große
Mehlsäcke, geschnitzte Katsinafiguren, Körbe und vieles mehr wird von den
Tänzern einzelnen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft übergeben. Die
Lebensphilosophie der Hopis verlangt ein einfaches Leben, im Einklang mit den
Unterweisungen des zentralen Geistes Maasaw; das Begrüssen der Sonne am Morgen;
die Teilnahme an Reinigungszeremonien sowie den kommunalen Tänzen und Festen
des Erntedanks. Im Rahmen dieses zeremoniellen Zyklus betreiben die Hopis ihre
nachhaltige Landwirtschaft. Thomas Banyacya hat dieses Weltbild folgendermassen
beschrieben:
Die Mutter Erde ist ein Lebewesen, ein kraftvolles
Wesen. Alles kommt von dieser Mutter Erde. Und wir sollten sie nicht aufteilen
oder umzäunen oder durch Mineralabbau für destruktive Zwecke stören.
Wir sehen das Four Corners Gebiet als heilig an. Es ist das spirituelle
Zentrum. Vor langer Zeit wurden Altäre auf den umliegenden heiligen Bergen
errichtet und sie sagten: „Dies ist das spirituelle Zentrum, es soll mittels
Gebeten und Zeremonien und Gebetsfedern und anderen Dingen gehalten werden.“
Jeden Monat wird etwas gemacht um dieses Land in Balance zu halten. (Banyacya
1997, 42-43)
--- Mit der Entwicklung der Agrarkultur (11-10 000 BCE in
Südostasien; 9-7 000 BCE in Südwestasien; 7 200 - 1 500 in Mittelamerika; 11-6
000 BCE im Nahen Osten; Campbell 1983, Cowan & Watson 1992, Cunliffe 1994)
wird ein entscheidender Schritt in Richtung auf das moderne Selbst vorgenommen:
Geschichten (Mythos) und Geschichte werden jetzt strikt getrennt; Kontrolle
(anstatt Balance) ist ein zentrales Ziel; phallische Symbolik und männliche
regenerative Kraft wird betont; die Welt wird in schlechte und gute Pflanzen
und Tiere eingeteilt; die Alltagsrealität und die schamanische Realität werden
nunmehr strikt getrennt und vom Selbst ausgegrenzt. Die religiöse Trance
(zumeist bei voller Bewußtheit) war vordem allen Mitgliedern der Gemeinschaft
zugänglich, hingegen gewinnt jetzt die Possessionstrance (kontrolliert, aber
bei Unbewußtheit während der Phase der Besessenheit) und die Arbeit von mehr
und mehr priesterlich und hierarchisch organisierten Spezialisten an Bedeutung.
Bei den Ägyptern, die eine hochentwickelte Geruchskultur hatten, war das
Aroma des Zedernholzes beliebt, sei es zur Mummifizierung, als Weihrauch oder
zum Schutz von Papyrusrollen. Kleopatra besass ein Schiff aus Zedernholz mit
parfümierten Segeln; ihr Thron war von Weihrauchbrennern umgeben; sie
parfümierte sich von Kopf bis Fuß. Sie empfing Markus Antonius in einem
Schlafzimmer, dessen Fußboden mit einer 50cm hohen Schicht von
Rosenblütenblättern bedeckt war.
Man kann vermuten, daß der Ursprung der europäischen Geruchs- und
Parfümkultur in Mesopotamien zu suchen ist. Hier diente Weihrauch dazu den
Geruch brennender Fleischopfergaben zu versüssen und er wurde bei Heilungen,
Exorzismen wie nach dem Sexualverkehr benutzt. Die Etymologie des Wortes Parfüm
(per = durch; fumare = rauchen) weist auf diese Geschichte hin.
[Im Folgenden bitte bestehende Titel und Ubersetzungen der Lutherbibel o.a.
einsetzen.]
Im Alten Testament enthält Solomons Gesang (im dritten Jahrhundert
vor der Zeitwende niedergeschrieben, aber sicherlich wesentlich älter) wohl die
deutlichsten Hinweise auf frühere, vielleicht hortikulturelle, Zeiten und auf
einen höhere Bewertung der Olfaktorik:
While the king was on his couch,
My
nard gave forth its fragrance.
My beloved is to me a bag of
myrrh,
That lies between my breasts. (1, 13-14)
What is that coming up from the
wilderness,
Like
a column of smoke,
Perfumed with myrrh and
frankincense,
With
all the fragrant powders of the merchant?
Behold, it is the litter of Solomon! (3, 6-7)
Until the day breathes
And
the shadows flee,
I will hie me to the mountain of
myrrh
And the hill of frankincense. (4, 6)
I arose to open to my beloved,
And
my hands dripped with myrrh,
My fingers with liquid myrrh,
Upon
the handles of the bolt. (5,5)
Ähnlich im Buch Esther:
Now when the turn came for each maiden to go in to King Ahasu-erus, after being twelve months under the regulations for the women, since this was the regular period of their beautifying, six months with oil of myrrh and six months with spices and ointments for women … (Esther 2, 12)
Im Alten Testament findet wir also keinerlei Vorurteil gegen den Körper und
die Benutzung von Parfüms, wohlriechenden Blumen und anderen exquisiten
Gerüchen. Diese Haltung hat sich allerdings dann langsam verändert, wie aus der
neutestamentlichen Kritik an der profanen Benutzung von Gerüchen ersichtlich.
Der Apostel Paul insbesondere sieht körperlichen Genuß als Hindernis in der
Beziehung zwischen Gott und Mensch.
Das natürliche menschliche Potential zu Trance und Bewußtseinsveränderung
wird jetzt die Domäne der Spezialisten (vgl. Kapitel 3); eine definitivere
Aufsplitterung der Sinne beginnt (in den uralten Wurzeln der indoeuropäischen
Sprachen, zurückgehend bis in die Jahre 2500 BCE (rekonstruiertes
Indoeuropäisch, PIE) und früher (4000 BCE einheitliches
Ursprungsindoeuropäisch), finden wir noch ein offensichtliches Überlappen und
Vertauschen der verschiedenen Sinnesmodalitäten; in den nachfolgenden
Jahrtausenden wird die Benennung der Sinnesmodalitäten mehr in Richtung auf
visuelle Dominanz hin ausgebaut (mehr Vokabular) und das Visuelle wird
zunehmend mit Intelligenz und Wissen assoziiert.
--- Die Entwicklungsgeschichte des modernen europäischen Selbsts hat ihren putativen
Ursprung in den frühen indoeuropäischen Kulturen (Gimbutas`s „Kurgan
culture“; 1991), einer besonderen Variante der nomadischen Pastoralisten.
Sicherheit und Wohlbefinden sind zentrale Interessen dieser Gesellschaften.
Konflikte zwischen Menschen und ihrer Umwelt werden durch Opfergaben gelöst.
Nomaden modifizieren ihre Umwelt nicht, aber die indoeuropäischen Nomaden sind
jetzt nicht mehr ein Bestandteil der sie umgebenden Natur: Haustiere dienen
dazu, die Umwelt auszunutzen.
--- Die Kombination von frühen nomadisierenden indoeuropäischen
Einwanderern und der Entwicklung der Agrarkultur (diese Einwanderungen
begannen ca. 4400 oder 4300 und erreichten Nordeuropa ca. 3500 BCE; Gimbutas
1991) stellten einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung des modernen
Selbsts dar: Bei den frühen Griechen (700 - 400BCE; Homer) finden wir noch ein
Selbst vor, das nicht strikt ausgegrenzt und kommunal verankert ist (ein
horizontales, flaches Selbst, sozusagen). Detienne (1996) hat diese
Entwicklungen am veränderten Verständnis der Wahrheit dargestellt: Ursprünglich
war Wahrheit das Sehen des Dichters, sie wurde in gesungener Sprache
aufgeführt, „der Dichter war immer ein Meister der Wahrheit. Seine „Wahrheit“
war eine performative Wahrheit ... fundamental verschieden von unserem eigenen
traditionellen Konzept der Wahrheit“ (52). Homer beschreibt die notwendige
Höflichkeit Gästen ein Bad und wohlriechende Öle anzubieten.
Zu Zeiten Platos (427-347 BCE) entwickelt sich das Selbst dann als
individueller Denker, der mit dem universellen Guten anstelle der lokalen
Götter befaßt ist. Aristoteles teilt die Sinne in fünf Modalitäten ein, eine
Gruppierung, die sich seitdem erhalten hat (trotz solch abweichenden
Kategorisierungen wie der von Philo, der den genitalen und Sprachsinn
hinzufügte). Aristoteles etabliert auch schon die Priorität des Visuellen, mit
Hören, Riechen, Schmecken und Berühren im Ranggefolge. Hier finden wir die
Anfänge der Vernachlässigung der Nase; Lust sollte ästhetisch, nicht sinnlich
sein. Für Plato und Aristoteles war der Geruchssinn der instabile Punkt wo sich
reine und unreine Sinne treffen – ein Sinn ohne viel wissenschaftlichen Wert.
Die Entwicklung des Alphabets (weniger abstrakt bei den Hebräern, mehr
abstrakt bei den Griechen) stellt einen wesentlichen Schritt in der Entwicklung
der Herausnahme aus der Mitwelt dar (die Hieroglyphen der Mayas, Ägypter und
Chinesen sind der mündlichen Überlieferung und der Einbettung in die Welt
wesentlich näher).
--- Zu Zeiten des Römischen Reichs (27 BCE - 476 BCE) wird das
Selbst weitgehend als leer, hohl und verzweifelt auf der Suche nach kommunaler
Bedeutung gesehen; die Kontrollkapazität des Individuums erhöht sich in dem
Masse, in dem die Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst weniger flüssig und
undurchlässiger wird. St.Augustin (354 - 430) bietet als Lösung für das
kaufsüchtige, verbrauchsorientierte, hungrige, lustgierige und „verblendete“
römische Selbst die Auffüllung des leeren Gefässes mit Gotteserfahrung. Anfänglich versucht das Christentum, Interesse
an Gerüchen zu unterdrücken; Parfüm und Rosen wurden als Götzenverehrung
gebrandmarkt. Die Repression der Gerüche ging mit der Unterdrückung anderer
Sinne Hand in Hand. Gefragt war asketische Einfachheit. Jedoch mit Beginn der
Mitte des fünften Jahrhunderts entwickelte das Christentum eine eigene Geruchssymbolik (Weihrauch,
Rose, usw.), die dann im Kampf gegen die Unchristen benutzt wurde; heidnischen
und sinnlichen Assoziationen wurden jetzt christliche entegegengesetzt.
Rosenkränze bestanden ursprünglich aus 165 getrockneten, sorgfältig gerollten
Rosenblättern und die Rose war das Symbol der Jungfrau Marie.
--- Zur Zeit des frühen Mittelalters (1000 - 1300; Rolandslied) sind
die Grenzen zwischen Selbst und Nicht-Selbst klar ausgearbeitet. Der Bereich
des Individuums wird durch feudale Eide, den Kodex der Ritterlichkeit, Gottes
Wünsche, etc. kontrolliert. Mit der Entwicklung der kapitalistischen
Produktionsform im späten Mittelalter (der Humanismus der Reanissance,
beginnend ca. 1300) wird das Individuum als Wähler bestimmter Loyalitäten
verstanden; das Selbst kann jetzt thematisiert werden. Gleichzeitig findet der
Wechsel von der mündlichen zur schriftlichen und schließlich gedruckten
Kommunikation statt.
Die mittelalterliche Pest war intensiv mit Gerüchen verbunden, sowohl durch
den Gestank der Pest wie die Benutzung von Gerüchen zur Pestbekämpfung. Bis zu
den Zeiten von Robert Koch und Georg Gaffky besetzte das Miasma eine zentrale
Stelle in der Ätiologie der Pest. Düfte spielten zu diesen Zeiten eine
wesentlich Rolle in der Medizin; Bettwäsche, Bekleidung und Essen wurden mit
Hilfe von Düften gereinigt. Der Prophet Mohammed hatte angenehme Gerüche
geliebt und arabische Ärzte und Philosophen wie Avicenna hatte detaillierte
Theorien der Düfte entwickelt. Die Kreuzüge hatten neue Gewürze nach Europa
gebracht. Elizabeth I (1533 – 1603) trug einen pomander, einen in Zimt
gerollten Apfel, gespickt mit Gewürznelken, zum Schutz gegen die Pest. Im 16.
Jahrhundert waren schützende Düfte der verlässlichste Verbündete von Ärzten und
anderen, die sich um Kranke sorgten. Beim Besuch von Pestkranken wurden zuerst
die Fenster geöffnet und dann ein aromatisches Feuer zwecks Desinfektion
angezündet. Der Arzt näherte sich dem Patienten in einer Wolke von Myrrhe, Aloe,
Rosen, Labdanum (Cistus ladaniferus), Styraxharz und
Gewürznelken, die von einem Bett heißer Kohlen in Rauch aufstiegen und er hielt
dabei einen Wacholderzweig in der einen Hand und einen Duftball in der anderen.
Der Beruf des Parfümiers war im 17. Jahrhundert eine ehrenhafte Beschäftigung:
er hatte die Aufgabe Wohnung und Häuser zu desinfizieren und reinigen. Die
komplizierten Prozeduren zielten darauf ab das Miasma mit Hilfe von Gerüchen zu
zerstören. Die Pest hat auch einen Einfluß auf den sich entwickelnden
Individualismus gehabt: Zu Pestzeiten sollten jetzt separate Essens- und
Trinkgefässe sowie Bettwäsche benutzt werden, und, falls dies nicht möglich
war, dann sollten diese gut gewaschen und parfümiert werden.
--- Im Zeitalter der Aufklärung werden individuelle Freiheit,
Empirik und wisssenschaftliche Objektivität als zentrale Koordinaten
etabliert. Beobachtung und Logik
stellen Tradition und individuelle Anpassung an Tradition und Gemeinschaften in
Frage. Das Individuum hat ein Innenleben, das entdeckt und erforscht werden
kann. Die Fähigkeit zur instrumentalen
Kontrolle und zu Agency wird jetzt im Selbst lokalisiert. Sprechen, durch den
Atem mit der Verkörperung von Wissen eng verbunden, verliert jetzt an
Bedeutung, und die visuelle Wissensaneignung wird dominant (Schrift,
Druckpresse). Sehen ist natürlich der prädominante Modus der Wissenschaften
(Beobachtung). Seit dem 18. Jahrhundert finden wir eine Unterdrückung von
Gerüchen in öffentlichen Räumen und die Benutzung von Deodoranten. Mit Fortschritten
in Hygiene und Chemie wurde Krankheitsbekämpfung mit Hilfe von Weihrauch und
Parfüms langsam diskreditiert.
Trueman hat die Geschichte der Gerüche bis zu diesem Zeitpunkt
folgendermassen zusammengefasst:
Die Menschen der Antike waren sauber und duftend. Die europäischen Menschen des frühen Mittelalters waren schmutzig und unparfümiert. Die des Mittelalters ... bis ins 17. Jahrhundert waren schmutzig und parfümiert. ... Die Menschen des 19. Jahrhunderts waren sauber und unparfümiert. (Ackerman 1990, S. 61)
Die Philosophen der letzten zweihundert Jahre sind häufig in die Fußstapfen
von Plato und Aristoteles getreten; Kant fand den Geruchssinn wohl eher lästig:
§20. Welcher Organsinn ist der undankbarste und scheint auch der entbehrlichste zu sein? Der des Geruchs. Es belohnt nicht, ihn zu kultivieren, oder wohl gar zu verfeinern, um zu genießen; denn es gibt mehr Gegenstände des Ekels (vornehmlich in volkreichern Örtern), als der Annehmlichkeit, die er verschaffen kann, und der Genuß durch diesen Sinn kann immer auch nur flüchtig und vorübergehend sein, wenn er vergnügen soll. – Aber als negative Bedingung des Wohlseins, um nicht schädliche Luft (den Ofendunst, den Gestank der Moräste und Äser) einzuatmen, oder auch faulende Sachen zur Nahrung zu brauchen, ist dieser Sinn nicht unwichtig. (1964, S. 453; Erstpublikation 1798)
Hegel schloß den Geruchssinn von ästhetischen Erwägungen aus, Schopenhauer
bewertete ihn als inferior und Georg Simmel als antisozial. Natürlich finden
wir auch Ausnahmen, beginnend mit Lukretius (der alle Sinne als äquivalent
ansah) und in jüngerer Zeit Feuerbach und Nietzsche, der seinen Genius in der
Nase lokalisierte und sich rühmte Falschheiten auszuschnüffeln; ohne Geruch
keinen Willen zu Macht. Freud sah die Abschwächung des Geruchssinnes als
notwendig für die Zivilisationsentwicklung an, während sich Marcuse um die
Repression olfaktorischer Genüsse im Dienste der Unterdrückung kritisch Sorge
machte.
Das moderne Selbst konstellierte sich im
Zusammenhang mit der kapitalistischen Entwicklung, der zunehmenden
Industrialisierung und Urbanisierung. Das gemeinschaftsorientierte Selbst
veränderte sich über die Jahrhundert in ein individualistisches, nunmehr leeres
Selbst. Diese Entwicklung kann im Zeitraffer auf dem amerikanischen Kontinent
beobachtet werden: Die europäischen Kolonisatoren und frühen Einwanderer waren
noch ausgesprochen gemeinschaftsorientiert. Industrialisierung und
Urbanisierung forcierten dann ein Selbst, das sich im Kontrast zum rassistisch
abgewerteten afrikanischen Sklavenselbst und zum indianischen wilden Selbst
entwickelt. Dieses individualistische, geruchsfreie Selbst (frei von jeglicher
Beziehung zum Geruch der Sklaverei oder den hochdifferenzierten
Geruchsfähigkeiten der Indianer) stand somit der modernen Warenkultur zur
Disposition – Hollywoodträume, Psychotherapie und Konsum können jetzt das
entleerte weiße, eurozentrierte Selbst im Spiel der ökonomischen Kräfte wieder
anfüllen. Das moderne Selbst und seine Sinneskonstruktion sind normativ von der
Umwelt dissoziiert und somit auf der Suche nach einer Lebensbereicherung, die
eine assoziative Selbst- und Sinneskonstruktion durch die erlebte Einbettung in
menschliche und natürliche Umwelt automatisch anbietet.
--- Es ist möglich, das Zeitalter der Postmodernität als den Beginn des
Zusammenbruchs der modernen Selbstkonstruktion zu verstehen: die Bestandteile,
die ein natürlicher Teil der indigenen Selbststruktur waren, klopfen wieder an
die Tür und bitten um Einlaß. Individualismus wird nicht mehr als progressiv und
lebensbereichernd erlebt, sondern als lebensverarmend und normative
Dissoziation. Die Spur des Anderen (Derrida 1982), des Ungesagten, die
Wiedererscheinung der narrativen und zeremoniellen Realität als überfassende
Kategorie der Geschichte der objektiven Realität, sind Hinweise auf menschliche
Fähigkeiten, die wir vielleicht weitgehend vergessen haben, auch wenn die
zeitgenössischen indigenen Völker wenigstens Aspekte davon weiterhin in ihren
Restlebensbereichen praktizieren.
Schamanische Trance, halluzinogene Drogen, Meditation und holistische
Erfahrungssuche sowie ein entsprechendes Prozess- und Wissensverständnis in
alternativen Ansätzen können als die gegenwärtige Assertion des
gesamtheitlichen menschlichen Potentials verstanden werden. Das Ende des
sekulären, rationalen, absolut gesetzten subjektiven Selbsts in einer
entzauberten, entspiritualisierten, objektivierten und quantifizierten Welt
hebt sich schemenhaft am Horizont ab. Dies hat Implikationen für ökologische
Ästhetik und die Praxis des multisensuellen Designs. Die assoziative
Wiedereinholung unterdrückter, vernachlässigter und vergessener Bewußtseins-
und Sinnesfunktionen stellt die zeitgenössische Herausforderung dar.
Multisensuelles Design birgt die Möglichkeit der Spur des anderen wieder Leben
und Aroma einzuhauchen, nicht nur in einem funktionalen, sondern auch in einem
kritischen Sinn.
Aus indigener Sicht kann die Geschichte des europäischen oder sog.
westlichen Selbsts demnach verkürzt folgendermaßen beschrieben werden: Die
Einbettung des menschlichen Bewußtseins in die Umwelt wird zunehmend unbewußt;
die Fähigkeit einer integralen Benutzung aller Sinne und von alternativen,
integrierenden Bewußtseinsprozessen (Trance) geht verloren (cf. Barfield 1965,
Kremer 1992a,b). Unsere Teilnahme an den Realitätsphänomenen, unsere sinnliche
und mentale Konstruktion des Unrepräsentierten, der Dinge an sich oder noumena, ist weitgehend unbewußt. Indigenes
Geschichtsverständnis, wie es sich im Kalender der Mayas (Freidel, Schele,
Parker 1993; Jenkins 1998; Kremer 2000a), im Zeitverständnis der Hopis (Kaiser
1991; Kremer 2000b) und anderen ausdrückt, spricht von der Notwendigkeit, daß
die Menschen europäischen Bewußtseins sich ihrer Teilnahme an den Phänomenen
wieder bewußt werden, anstatt diese Teilnahme per Objektivierung zu verleugnen.
D.h. anstatt unbewußter Teilnahme an der Konstruktion der Realitätsphänomene
ist die bewußte Teilnahme mit fließenderen Selbstgrenzen bei gleichzeitiger
Reflektion gefragt. Dies stellt nicht nur den geschichtlichen Hintergrund für
multisensuelles Design dar, sondern auch die Basis für die Entwicklung eines
kritischen Begriffs der Sinnlichkeit und seiner Rolle in der ökologischen
Ästhetik. Spuren dieses Potentials finden wir in einem breiten Spektrum von
populistischen Bewegung, sei es bei Bahro, der Tiefenökologie oder dem
Interesse an den Ritualen der Göttin.
Moderne Individuen haben eine Tendenz die eigene Selbstkonstruktion als
Norm zu setzen und alternative vergangene wie zeitgenössische
Selbstkonstruktionen und Sinnesnutzungen als unterentwickelt zu betrachten. In
der Folge dieser historischen Betrachtung ist es jedoch offensichtlich (wie
gleichfalls der interkulturelle Vergleich im nachfolgenden Kapitel zeigt), daß
das moderne Selbst und seine spezifische Sinnesbenutzung nur eine von
zahlreichen möglichen Ausformungen der Sinneswahrnehmung und Selbstkonstruktion
ist. Es als wissenschaftliche Norm zu setzen kommt Rassismus gleich. Wenn wir
uns mit historisch und kulturell andersartigen Selbstkonstruktionen in einen Dialog
begeben, dann eröffnet sich die Möglichkeit das moderne Individuum nicht als
Zwangsentwicklung, sondern als Wahlmöglichkeit zu sehen. Multisensuelles Design
kann hier kritisch kulturelle Spielräume eröffnen.
3. Zusammfassende
europäische Sinnesgeschichte
Die Geschichte der Sinne läßt sich am symbolhaftesten an der Geschichte der Rose darstellen[iii]: Im prämodernen Westen war es ihr Geruch, der zählte; mit der Verlagerung von Gärtnerei für die Nase (z.B. in ummauerten Klostergärten) zur Gärtnerei zwecks visueller Schönheit wurde die äußere Ästhetik der Rose zunehmend wichtig und es wurde jetzt unwichtiger, ob sie riecht oder nicht; ihre Geruchsessenz spielte nun eine geringere Rolle. Die Griechen benutzten Parfüm, im Vergleich zu heutigen Zeiten, im Überschwang; es war ein Bestandteil des Alltagslebens, nicht nur auf individueller sondern auch auf sozialer Ebene (z.B. wurden Teilnehmer an athletischen Wettkämpfen mit Parfümen eingerieben und den Gästen wurde Myrrhe und Weihrauch gegeben). Parfüme waren kein Luxus, sondern ein wesentlicher Bestandteil des Wohlergehens und der Gesundheit.
Das Christentum bannte anfangs
Gerüche als Teil der generellen Unterdrückung der Sinnlichkeit, später aber
wurde dann Weihrauch und die Rose als potente Bilder mit neuen spirituellen
Assoziationen im Kampf gegen Heidentum und Sensualität benutzt (der Geruch des
Lebensbaumes wurde als mit unsagbarer Güte süßriechend beschrieben). Sünde und
Übel stanken, während das Heilige hingegen einen süssen Geruch von sich gab.
Geruch wurde im Mittelalter als zuverlässigerer Sinn als Sehen gehalten. Olfaktorische Diskriminationsfähigkeit war
wesentlich für medizinische Diagnosen. Rosen und andere Pflanzen hatten
therapeutische Qualitäten. Zur Zeit der großen Pest wurden Geruchkugeln
zum Schutz vor Infektion getragen. Starke Gerüche dienten der physischen
Erkräftigung und arbeiteten den verschmutzenden Gerüchen von Verfall und
Krankheit entgegen. Rosen und andere wohlriechende Pflanzen, zusammen mit
Knoblauch, Zwiebeln und anderen Kräutern und Gemüsen, wurden für medizinische
und kulinarische Zwecke angepflanzt. Im 16. Jahrhundert brachte die zunehmende
Bewußtheit der visuellen Schönheit gleichzeitig größere Sensitivität gegenüber
olfaktorischer Schönheit mit sich. Geruch war mit Atem assoziiert, und somit
mit der Lebenskraft; Farbe hingegen mit Oberfläche und Dekoration. Im prämodernen Westen finden wir Geruch
häufig mit Essenz assoziiert, während Sehen nur die oberflächliche Erscheinung
erfassen kann.
Im 18. Jahrhundert wurden dann Gärten dazu angelegt, die Augen abzulenken
und auf diesem Wege die Sinne zu zerstreuen. Visualismus war der Gartenstil
dieser Epoche. Geruch trat jetzt
deutlich in den Hintegrund als John Locke und Descartes die Sehfähigkeit als
Zentrum der mentalen und wissenschaftlich-technologischen Aktivitäten betonten.
Geruch war jetzt nicht mehr als Metapher für Wahrheit dienlich, Sehen enthüllte
die Wahrheit. Zunehmende Hygiene führten zur Deodorisierung der Mitwelt
(Abflußanlagen) und der Menschen (persönliche Sauberkeit). Üble Gerüche
verloren an Bedeutung in der menschlichen Produktion und bekamen ein Problem
der industriellen Manufaktur. Im viktorianischen England kam es zu einer
olfaktorischen Wiederbelebung, die gleichzeitig, mehr oder minder explizit,
eine Kritik der industriellen Revolution and des Kapitalismus war. Der Wechsel
vom Qualitativen zum Quantitativen findet seine Parallele im Wechsel vom
olfaktorischen zum visuellen als zentralen Sinnesmodus. Während der viktorianische Mann die Vernunft
und Wahrheit sieht, schnüffelt die viktorianische Frau mit Hilfe der Intuition.
Blumensymbolik entwickelte sich als Code in der viktorianischen Gesellschaft
(die rote Rose als Liebesbotschaft). Proust beschreibt Gerüche, um sich
nostalgisch an die Kindheit zu erinnern, Baudelaire schreibt Fleurs du mal und Huysmans beschreibt
die Suche nach einem idealen Parfüm. All dies kam mit dem Ersten Weltkrieg zu
einem schnellen Ende, und Düfte wurden mit Korruption und ungesunder
emotionaler Verdrängung verbunden; jetzt wurde erhöhte olfaktorische
Sensibilität nicht als Sinnesverfeinerung, sondern psychopathologisch
interpretiert. Der Wechsel der Bedeutung des Olfaktorischen ist im Zusammenhang
mit der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung zu sehen. Natürlich war
der Geruchssinn nie dominant als Modell für Schönheit und Wissen, jedoch hat er
in früheren Zeiten einen größeren Teil des sinnlichen und symbolischen
Selbstbewußtseins in Anspruch genommen. Die Abwertung des Olfaktorischen erfolgt parallel mit der Abwertung des
Mythischen, von Gemeinschaftswerten und der häuslichen Manufaktur und der
wachsenden Bedeutung des Empirismus, Individualismus und Industrialismus. Sie
kann als eine Koordinate im Prozeß der Entwicklung der modernen normativen
Dissoziation gesehen werden.
4. Abschliessende Bemerkungen
5. Literaturhinweise
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[i] Chamberlain (1983, 10) summiert: “The visual system is relatively advanced at birth though only a few decades ago investigators were not sure if newborns could see at all.”
[ii] Dieser Abschnitt basiert auf
Informationen von Ackerman (1990). Classen (1993), Cushman (1995), Goodman
(1988), Kremer (1996, 1997, 1999, 2000c), LeGuérer (1992), McGrane (1989).
[iii] Cf. Classen (1993).